Ein Plädoyer für das gesprochene Wort

und warum Interpretation zu Missverständnissen führt

Wer erinnert sich nicht an die langen Stunden Deutschunterricht, in denen Gedichtinterpretation auf dem Programm stand, an die Klausuren, in denen wir aufgefordert waren, Literatur zu analysieren. Klar, die Dichter und Autoren, um die es ging, weilen schon lange im Reich der Toten, ihre Worte können also nicht mehr persönlich hinterfragt werden, es bleibt nur die Interpretation. So weit so gut in der Literatur. Die Fähigkeit zur Interpretation von Gesagtem, Geschriebenem, Mimik und Gestik lernen wir alle aber schon viel früher. Als Kinder reden und fragen wir wie uns der Schnabel gewachsen ist, ohne Scham und Scheu, wir wollen lernen und verstehen, uns sicher sein, unser Gegenüber verstanden zu haben. Man lässt es Kindern durchgehen, auch wenn sie vermeintliche Tabus brechen. Es kommt unweigerlich der Moment, wo wir hören „darüber spricht man nicht“ oder wo wir im Aussprechen dessen, was wir wirklich denken verletzt werden, die Erfahrung machen, dass es besser ist, den Mund zu halten. Dass es unserem beruflichen Fortkommen besser zu Gesicht steht, nicht aufzufallen, dass unsere Beziehungen unkomplizierter sind, wenn wir unsere Gedanken und Gefühle filtern. Wer will schon unangenehm auffallen oder gar zurückgewiesen werden?

Ich habe neulich in der Welt ein Interview mit der Paartherapeutin Esther Perel gelesen, es ging um Untreue – ein ganz anderes Thema. Aber ihre Quintessenz passt irgendwie auf alle zwischenmenschlichen Begegnungen und Beziehungen. Sie sagt, würden wir doch nur 10% mehr über das sprechen, was wir wirklich denken und fühlen, wären unsere Beziehungen besser und die Scheidungsrate niedriger.

Ihr Plädoyer für mehr ehrlichen Austausch geht mir nicht aus dem Kopf, betrifft er doch auch mich. Eines meiner größten Talente liegt in der Interpretation – nicht umsonst war Deutsch mein bestes Fach. Ohne mir dessen bewusst zu sein, filtere und interpretiere ich allzu häufig das, was mein Gegenüber sagt, tut und noch schlimmer: eben nicht sagt oder tut. Ich bin Weltmeisterin darin, das Verhalten und die Aussagen meiner Mitarbeiter, aber auch meiner Freunde und meines Mannes in kunstvolle Filme zu verweben und mich – vor allem, wenn die Stimmung mal schlecht ist – verantwortlich zu fühlen und mir alle hingestellten (auch die eingebildeten) Schuhe anzuziehen.

So habe ich mich kürzlich über zwei Wochen in meiner eigenen Firma unwohl gefühlt, meine Worte auf die Goldwaage gelegt, mich hinter Musik aus meinen Kopfhörern verschanzt. Und nachts darüber nachgedacht, was ich an der Situation ändern muss. Als dann das geplante Gespräch mit allen anstand, musste ich feststellen, dass alles ganz anders war, dass ich nichts an der Situation hätte ändern können, dass die interpretierte Erwartungshaltung nur in meinem Kopf stattgefunden hat. Das mal als ein Beispiel.

Genauso weltmeisterlich bin ich im Interpretieren, wenn ich meine Gedanken (und vor allem Emotionen) formuliere, aufschreibe und dann kommt nichts oder nicht das, was ich dachte, dass es kommen sollte. Ich interpretiere also fröhlich, was das wohl zu bedeuten haben könnte.

Der Fehler in beiden Fällen: ich bin ich mit meinen Mustern und meiner Art zu denken und zu fühlen. Mein Gegenüber ist aber anders, hat seine Art zu denken und zu fühlen und folgt nicht meinen Erwartungen oder Wegen. Und schon ist es da: das schönste Missverständnis. Wieviel Zeit verschwenden wir damit uns Gedanken über missglückte Gespräche, ungute Situationen und Begegnungen zu machen, mit der Angst Fehler zu machen, verletzt oder zurückgewiesen zu werden. Dabei wäre es wohl in einem Bruchteil dieser Zeit möglich, Klarheit zu schaffen. Ich hätte gleich meine Mitarbeiter ansprechen können, meine Wahrnehmung formulieren sollen und um Erklärung bitten müssen, hätte offen dazu stehen sollen, dass ich mich unwohl fühle, meine Erwartungen klar formulieren müssen. Es hätte uns allen das Leben leichter gemacht.

Tja und im zweiten Fall? Auch hier hilft das gesprochene Wort, hilft ehrlich zu formulieren, dass es mir schwerfällt, ohne Antwort zu bleiben, dass ich aber gleichwohl respektiere, wenn mein Gegenüber seine Gedanken nicht in der gleichen Offenheit formulieren möchte.

Denn eines ist auch klar: immer offen und ehrlich zu formulieren, was man wirklich denkt, erfordert Mut. Den Mut sich zu zeigen, vielleicht anzuecken, vielleicht auf Ablehnung zu stoßen und vielleicht auch mal auf Schweigen. Und dennoch, wir Menschen haben die Sprache, um uns auszutauschen, um zu diskutieren, unsere Anliegen, Sehnsüchte und Ideen auszutauschen, um uns nah zu sein und auch zu streiten. Wem es gelingt, dabei wahrhaftig zu bleiben, mutig zu sich und seinen Gedanken zu stehen, wird am Ende die Menschen in seinem Leben haben, die er sich wünscht – im Job und im Privaten.

Gelingt mir das immer? Nein, aber ich werde es weiter üben, werde weiter mutig auch einfach mal zu weit gehen. Denn ich bin überzeugt davon, dass das zu einem offenen und vertrauensvollen Umfeld führt, ich meinen Mitarbeitern damit eine verlässliche Partnerin sein kann und wir so die Zeit in unsere Projekte, Kunden, Visionen und Ziele investieren können, anstatt einen guten Teil der Zeit in „Politik“ zu verschwenden.

Und privat? Oft noch schwerer, aber am Ende immer lohnenswert. Reden ist eben doch manchmal Gold, wo Schweigen eher Silber oder gar Pech ist.