Ihr und Wir

Das Phantom der Identität geht um. Gerade in Zeiten, in denen von überall das Fremde in das Eigene zu strömen scheint, suchen die Menschen verstärkt Zuflucht in einem homogenen Kollektiv. Jeder von uns nutzt die verschiedensten Zuschreibungen, um sich als Person und als Angehöriger einer Gruppe kenntlich zu machen. Mann oder Frau, Hesse, Schwabe oder Hamburger, St. Pauli- oder Hoffenheim-Fan, Veganer, Jogger, Gamer, Biker – so lange solchen Selbst- und Fremdbeschreibungen eine Spur von Ironie anhaftet, weil nie ganz klar ist, was die so Beschriebenen über ein einzelnes Merkmal hinaus zu einer Gruppe formt, bleiben sie, was sie sein sollten: Klischees, die die unerklärliche Vielfalt unserer Welt etwas erträglicher machen. In ihnen artikuliert sich ein Bedürfnis nach Geborgenheit, Verbindlichkeit, Sicherheit unter „Gleichen“, das so alt ist wie die Menschheit selbst – und üblicherweise durchaus harmlos. Erst wenn dieses Identitätsbedürfnis „politisch“ wird, ist Gefahr in Verzug. Wo Selbstverständnis und Selbstbewusstsein etwa auf nationale Zugehörigkeit gründen, war es um Toleranz und Vernunft, Gerechtigkeit und Freiheit noch nie gut bestellt. Und wenn Heimat allein aus der Herkunft wächst, dürften wir, angesichts durch Gewalt und Armut erzwungener und wirtschaftlich zunehmend gebotener „Mobilität“ einem Zeitalter der Heimatlosigkeit entgegensteuern. Was aber ist es, das hier zu verschwinden droht? Und welche Folgen hat das? Gerade in den vergangenen Monaten sehen nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus der rechtskonservativen Ecke jene ominöse „nationale Identität“ bedroht und eine wertvolle, authentische, homogene „Heimatkultur“ gefährdet. Zwar werden auch diese Mahner und Warner nicht angeben können, was damit bloß gemeint sein möchte, sie können jedoch sicher sein, und sind es auch, dass ihre vorgeblichen Besorgnisse die gewünschte Wirkung entfalten: Ausgrenzung. Denn genau das ist die Zwillingsschwester jeder „Identitätspolitik“: Alterität.

Es gibt kein Wir ohne ein Ihr, das Eigene ist ohne das Fremde, das Kalte ohne das Warme nicht denkbar.